Leibliche und seelische Leidenschaften

Und abgesehen von dem bereits Gesagten, ist folgendes noch viel nötiger zu wissen und für alle äußerst notwendig, die bemüht sind, die Tugend zu vollbringen, doch danach streben, der Schlechtigkeit auszuweichen:

In dem Maß, wie die Seele unvergleichlich besser ist als der Leib sowie in vieler Hinsicht und in den hauptsächlichen Stücken durchaus vorzüglicher und wertvoller, so sind es auch die seelischen Tugenden — und vor allem jene, die Gott nachahmen und nach ihm benannt sind — im Vergleich zu den leiblichen.

Andererseits aber muß man verstehen, daß sich auch die seelischen Laster von den leiblichen Leidenschaften hinsichtlich der ihnen eigenen Wirkungen und der abzubüßenden Strafen unterscheiden, auch wenn dies den meisten aus mir unverständlichen Gründen entgeht und nicht bewußt ist. Vor Trunkenheit und Unzucht, Ehebruch und Diebstahl und ähnlichem hüten sie sich, sie meiden oder bestrafen es, da es für die meisten Menschen augenscheinlich ein Greuel ist.

Doch den seelischen Leidenschaften, die viel schlimmer und gewichtiger sind als jene, uns sowohl in den Zustand von Dämonen versetzen als auch jene, die ohne Umkehr daran festhalten, zur ewigen Bestrafung führen, die für sie bereitliegt — diesen Leidenschaften gegenüber verhalten sie sich gleichgültig. Ich meine damit den Neid und den alten Groll, die Bosheit und die Gefühllosigkeit sowie die Wurzel aller Übel, die Geldgier, wie der Apostel sagt, und was dem gleich ist.

(Johannes von Damaskus, Abhandlung, 15)

 

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